02.07.2021

Olga Grjasnowa : Die Macht der Mehrsprachigkeit

Dudenverlag - ISBN: 978-3-411-75658-2 Preis: 12 Euro


Olga Grjasnowa ist eine der wichtigsten Schriftstellerinnen der deutschen Literatur. Ihr viel beachtetes Debüt „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ (2012) wurde mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet. In 2020 erschien ihr Roman „Der verlorene Sohn“.

Jetzt plädiert sie in dem Essayband „Die Macht der Mehrsprachigkeit“ für eine größere Akzeptanz von Mehrsprachigkeit und lädt die Leserin zum Perspektivwechsel ein: weg vom Mantra Deutschkenntnisse als wichtigstes Integrationsinstrument hin zur Förderung von Mehrsprachigkeit.
Es wird klar, dass manche Sprachen (Französisch) ein viel größeres Prestige haben als andere (Türkisch). Grjasnowa zeigt auf, dass diese Diskrepanz mit rassistischen Vorstellungen von Sprache und Herkunft zusammenhängt, aber auch mit der (mangelnden) Förderung von Mehrsprachigkeit. Grjasnowa selbst ist multilingual unterwegs: Im Jahr 1996 ist sie im Alter von elf Jahren mit ihrer Familie aus Aserbeidschan nach Deutschland ausgewandert. Sie schreibt: „Von da an wurde ich auf Deutsch sozialisiert, sodass ich das Deutsche heute um einiges besser beherrsche als meine russische Muttersprache. Die Muttersprache meiner Kinder ist Deutsch, auch wenn ich mit ihnen Russisch spreche und mein Mann Arabisch. Mit meinem Mann spreche ich Englisch – so fühlen wir uns am wohlsten.“

Die Grjasnowas haben keine gemeinsame Familiensprache und sind damit in Deutschland keine Ausnahme mehr. Überhaupt stellt Grjasnowa das Konzept der Muttersprache in Frage. Sie spricht lieber von A-, B- und C-Sprachen so wie es auch in der Dolmetscherei üblich ist.

Provokant fragt Grjasnowa: Warum sollte „Deutsch können“ und „Deutsch lernen“ das Non-Plus-Ultra sein in einer postmigrantischen Gesellschaft? Immer mehr Menschen sprechen in Deutschland mehr als eine Sprache. Geradezu fantastisch klingen ihre eigenen Erfahrungen und die Bedeutung des Hin- und Herwechselns zwischen den Sprachen. Sie habe manchmal den Eindruck, in jeder Sprache eine andere Persönlichkeit zu haben: „Auf Russisch bin ich witziger, auf Deutsch aufgeräumter, womöglich sogar sachlicher, und auf Englisch zwar eingeschränkt in meinen Ausdrucksmitteln, aber viel freier und entspannter, weil es kein Kampf war, die Sprache zu lernen, und weil mir niemand meine Fehler vorhält. Mit Tieren und Babys spreche ich, ohne nachzudenken, Russisch.“

In mehreren Essays wirft sie einen Blick auf Sprache und Sprachwechsel in  der Literatur. Zu Nabokov schreibt sie: „Um Vladimir Nabokovs Meisterwerk, den Roman Ada oder das Verlangen zu verstehen, sollte man Englisch, Russisch und Französisch in Perfektion beherrschen. Das Buch wurde zwar auf Englisch geschrieben, ist aber voller russischer und französischer Wortspiele“.

Nach der Lektüre der Essays sollte der Leser*in klar geworden sein, dass die deutschen Schulen noch immer monolingual sind, sich an sogenannten „Prestige-Sprachen“ ausrichten und so der Mehrsprachigkeit in der postmigrantischen Gesellschaft hinterherhinken. Wegen mangelnder „Sprachkenntnisse“ wurde die Erfolgsautorin Grjasnowa als Kind mehrere Klassen zurückgestuft, als sie nach Deutschland kam. Diese „Beschämung“ sollte jedem multilingualem Kind erspart bleiben, so Grjasnowa.