19.11.2021

Edgar Selge : Hast du uns endlich gefunden

Rowohlt - ISBN: 978-3-498-00122-3 Preis: 24 Euro


Seit Christian Berkel seine familienbiografischen Romane „Der Apfelbaum“ und „ADA“ veröffentlicht hat, steht fest: auch Schauspieler schreiben gute Literatur.
Der Titel des Buches „ Hast du uns endlich gefunden“ ist Teil einer Traumsequenz. Eines Traumes, den der Erzähler von seiner Kindheit träumt. Edgar Selge erzählt von seiner eigenen Kindheit.  Er schlüpft in die Rolle des 12-jährigen Edgars. Das schafft einerseits Nähe und andererseits Distanz.  So entstehen Innen- und Außenansichten einer Familie:
eine Kleinstadt im Westfälischen, der Vater Gefängnisdirektor und Musikliebhaber, der sein Klavier liebt, Bach und Beethoven. Die Mutter bringt fünf Söhne zur Welt und hätte eigentlich lieber nicht geheiratet. Die ganze Familie ist durchdrungen von der Liebe zur Musik – leider spielt Mutter so schlecht Geige.
Es sind die 60er Jahre, der Krieg ist noch nicht lange vorbei, der „Zusammenbruch des Landes“  komplett, „der Nationalstolz im Eimer“, die einen erinnern sich so, die anderen so.
Die Eltern wissen sehr gut zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Das richtet sich oft gegen den Jungen, der mitunter lügt oder Geld klaut. Die Eltern sagen, dass sie nie wissen, „was es mit ihm auf sich hat“.  Die Form der Bestrafung für diverse Vergehen ist stets der Rohrstock. Mit Genauigkeit wird über diese „Züchtigungen“ berichtet. Die Demütigung des Verprügeltwerdens, der Selbsthass, diesen Menschen zu lieben – trotz der erfahrenen Gewalt aus seiner Hand. Es erscheint der Leser_in, als ob der heutige Edgar liebevoll auf den jungen Edgar schaut und ihn ermuntert durchzuhalten.

Immer wieder der Versuch des Entrinnens zwischen Lüge und List. Wenn man sich an die eigene Kindheit erinnert, weiß man, dass das selten gelingt.
Die Erinnerung an den geschundenen Körper ist sehr präsent.
Indem Selge hin und her schwebt zwischen drinnen und draußen - die Blickwinkel  ändern sich schnell -  entsteht ein komplexes Bild dieser Nachkriegsgeneration. Es entsteht ein Bild von dem, was heute Transgenerationalität genannt wird.  Die Weitergabe von Erfahrungen, Traumatisierungen und Schuld wird deutlich.
Dieses Buch reiht sich nicht ein in die üblichen „Als ich geboren wurde…“ Romane, sondern es verdichtet die deutsche Nachkriegszeit in vollendeter Weise mit der zuschauenden Art eines 12-jährigen Jungen.
Das Buch folgt keiner chronologischen Ordnung. Die Leser_innen erwartet ein wunderbar komponiertes Buch, das sich im Grunde auf sehr wenige Szenen beschränkt.

Also: lest dieses Buch.